Schüler sollen lernen, was sie selbst tun können, wenn sie am Boden sind. Dazu gehen Freiwillige in Klassen und berichten, wie sie psychisch belastende Zeiten überstanden haben. Der Arbeitskreis Leben sucht weitere „Lebenslehrer“ für das Projekt.
Nürtingen/Kirchheim – Verrückt? Na und!“ – schon im Titel des Präventionsprojekts, das der Arbeitskreis Leben (AKL) in Schulen im Gebiet des Altkreises Nürtingen anbietet, klingt an, dass psychische Probleme nichts Ungewöhnliches sind. Und seelische Krisen können bewältigt werden – das ist die Botschaft, die sogenannte Lebenslehrer in die Klassen tragen. Annegret Schrempf und Christof Schnitzler sind zwei von sieben Lebenslehrern, die Schülern von der neunten Klasse an ihre Lebensgeschichten erzählen. Und diese Geschichten haben es in sich.
Ein Hirntumor wirft das Leben über den Haufen
Christof Schnitzler steht voll im Saft, er ist Leistungssportler, Abteilungsleiter in einer Firma. Dann der Schock. Eines Abends beim Essen, tritt bei ihm eine halbseitige Lähmung auf. Er bekommt einen epileptischen Anfall. Danach ist nichts mehr wie zuvor. Die Ärzte stellen bei dem Ingenieur einen Hirntumor fest. Dieser kann bei einer Operation nicht vollständig entfernt werden. Fortan hat er immer wieder epileptische Anfälle. „Das wirft das Leben über den Haufen“, sagt Christof Schnitzler.
Das alles passierte vor rund 20 Jahren. Im Alter von 40 wurde er als unheilbar eingestuft, der Nürtinger erfuhr Ausgrenzung. „In Nürtingen brauchen wir keine Säufer“, waren teils die Reaktionen, wenn er wieder einmal hilflos am Boden lag. „Ich musste lernen, sehr offen mit der Krankheit umzugehen“, erklärt Christof Schnitzler. Er gewöhnte sich an, die Menschen vorzuwarnen, wenn er etwa einen Laden betrat.
Trotz Krankheit den Spaß am Leben nicht verloren
Der heute 58-Jährige hat nicht aufgegeben. Eine Chemotherapie hatte schließlich Erfolg und besiegte den Krebs. Auch wenn seine Ehe infolge der Krankheit gescheitert und sein Sehfeld eingeschränkt ist, hat Christof Schnitzler nicht aufgegeben. „Wichtig für mich war, dass ich immer noch Spaß am Leben haben kann“, sagt der Lebenslehrer, der sich zum betrieblichen Sozialarbeiter fortgebildet hat und auch als Therapeut tätig ist.
Wenn die Schülerinnen und Schüler solche bewegende Schicksale hören, dann ist es meist mucksmäuschenstill im Klassenzimmer, berichtet die Projektleiterin des AKL, Gabriele Alberth. „Das Ziel ist es, Jugendliche und junge Menschen über psychische Gesundheit aufzuklären und ihnen Ideen und Ansätze an die Hand zu geben, was sie für sich selbst tun können, wenn es ihnen mal nicht so gut geht“, sagt die Pädagogin über das Projekt, das seit drei Jahren unter der Schirmherrschaft des baden-württembergischen Sozialministers Manne Lucha steht.
Eine vierfache Mutter kämpft sich aus der Krise
Mut macht auch Annegret Schrempf.Jahrelang litt die vierfache Mutter an schweren Depressionen. Sie entwickelte eine Psychose, es folgten zahlreiche Aufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen. Annegret Schrempf hat einen Zettel aus dieser schweren Zeit aufgehoben. Darauf stehen Anweisungen, weil sie damals durch ihre Krankheit völlig überfordert war. „Matthis hat 7.50 Schule. 6.45 Weken. Waltta Brauch ich Regensach, feste Schuhe, Vesper, Getrenk, Tuch zum augen verbinden.“ Geschrieben hat den Zettel Annegrets Sohn im Grundschulalter selbst.
Die 56-Jährige hat ihr Martyrium ebenfalls überstanden. Der AKL sucht weitere Frauen und Männer, die nach bewältigten Krisen als Lebenslehrer mitmachen. Wichtig ist, dass sie bereits eine gewisse Distanz zur Krise aufgebaut haben. Die Lebenslehrer werden geschult. „Keiner wird ins kalte Wasser geworfen“, sagt Gabriele Alberth, die selbst als Moderatorin beim Gang in die Klassen mit dabei ist.